Die Geschichte endet nie

Von Ralf Bachmann, Berlin

Für mich - obwohl nur ein halbes Jahrzehnt nach Wolfgang Stadler geboren - war das Lesen seines Manuskripts der Besuch in einer fernen, fremden Welt. Als jüdischer „Mischling 1. Grades" von den Nazis zu den Art- und Rassefremden gerechnet, habe ich Krieg und Nachkrieg sozusagen auf der „anderen Seite" erlebt. Die Bomben auf Leipzig machten zwar keinen Unterschied zwischen Faschisten und Verfolgten, den Hunger und die ständige Angst um Freiheit und Überleben hatte ich an meiner „Front": im Luftschutzkeller, beim täglichen Ortswechsel und zuletzt unangemeldet in Grimma. Aber mir blieb erspart, eine Arbeitsdienst- oder Wehrmachtsuniform zu tragen, und die Niederlage Nazideutschlands stürzte mich nicht in Gewissenskonflikte, machte aus mir keinen Gefangenen, sondern war für mich ohne Abstriche einzig und allein Befreiung.

So las ich nun bei Wolfgang Stadler Seite für Seite, Tag für Tag, wie auch diejenigen gequält und drangsaliert wurden, die das Regime doch in Zeitungen, Rundfunksendungen und Reden nicht müde wurde, als die „Helden des Kampfes um Leben und Tod des Vaterlandes", als die „leuchtende Zukunft der Nation" zu lobpreisen. Stadler hatte sich nicht die Aufgabe gestellt, ein Geschichtspanorama zu schreiben. Wer mehr über Ursachen, Ausgangspunkte und Schuldige des 2. Weltkrieges erfahren möchte, der muss zu den Werken der Historiker greifen, an denen es nicht fehlt. Wer aber wissen will, wie der Krieg war, wie ihn der junge Arbeitsdienstler und Soldat an der Front in Rußland, in Eis und Schnee, in Schlamm und Schützengräben, im Hagel von Bomben und Granaten, als Hungernder, Zitternder, Blutender, vor Angst und Schmerz Weinender erlebte, der kann das kaum irgendwo authentischer lesen als auf den Seiten dieses Buches. Auch wenn das Buch ein hartes Nein zum Krieg - nicht nur zum Nazikrieg, sondern zum Krieg als Instrument der Politik überhaupt - sagt, so ist es doch vor allem positiv, es ist ein Ja zum Leben, ein Ja zum Nichtaufgeben auch in den schwierigsten Situationen, ein Ja zur Zukunft. Wenn ein Autor seinen Gegenstand noch nach einem halben Jahrhundert mit solcher Akribie schildert, selbst die Details in solcher Erinnerung hat, dann kann man davon ausgehen, dass ihn die Thematik niemals loslassen wird. In diesem Sinne ist er ein Opfer des Krieges, aber letzten Endes ein Sieger über ihn. Zum Glück spürt man seinen Optimismus auch in der Schilderung manches lustigen Dialogs, der beweist, dass selbst der „Landserhumor" oft anders war, als man uns an Stammtischen weiszumachen versuchte.

Hervorzuheben ist, dass Stadler nach so langer Zeit nicht versucht, die geistigen Irrungen und Wirrungen, denen er damals - wie die Mehrheit des deutschen Volkes - unterlag, zu verdrängen oder zu leugnen. Selbst die Vokabeln seines Tagebuches und der Schilderung der Gefangenschaft hat er nicht unnötig „angepasst", sondern so gelassen, wie man eben zu der Zeit sprach. Das ist ehrlicher, als im modischen Streben nach „political correctness" des gedruckten Wortes - das zwar die Texte chemisch reinigt, aber verlogen ist, wenn die Autoren im stillen Kämmerlein ganz anders reden - der Vergangenheit ein Mäntelchen umzuhängen. Wir alle und auch unsere Werke sind Kinder unserer Zeit und von ihr geprägt, manchmal ohne es zu merken. Der „Zigeunerbaron" heißt nun mal „Zigeunerbaron" und nicht „Sinti-und-Roma-Adliger". Und Stadler dokumentiert eine Geschichtsetappe, die keine Völkerfreundschaft kannte, sondern Kameraden und Feinde, blonde Germanen und asiatische Untermenschen, „den Landser" und „den Russen". In diesem Zusammenhang empfinde ich es als nützlich, dass er die schmerzliche Wahrheit des Lebens in den russischen Kriegsgefangenenlagern ungeschminkt, aber auch sachlich und unverzerrt schildert, das im Kalten Krieg von beiden Seiten so lange instrumentalisiert worden ist.

Braucht man so etwas wie Stadlers Aufzeichnungen im neuen Jahrtausend noch? Unbedingt, meine ich. Wir Zeitzeugen des Krieges und des Dritten Reiches sterben langsam, aber unweigerlich aus. Bald wird nur noch unser gedrucktes Wort Zeugnis davon ablegen, wie die Wirklichkeit aussah, die Antwort auf die Holocaust-Leugner und Kriegsverherrlicher sein. Dieser Antwort bedarf es. Schaut euch die Losungen der „ewigen Marschierer" an, wenn sie die Jahrestage des Krieges und der „Machtergreifung" auf ihre Weise begehen. Erinnert euch auch, wie ein amerikanischer Militärsprecher eben erst, während des Kosovo-Krieges, Bombentreffer auf Wohnkomplexe und Krankenhäuser nassforsch Kollateralschäden nannte, was man wohl dem Sinne nach mit „Nebenwirkung" übersetzen müsste. Aber er sagte nicht, so geht es eben im Krieg zu, und deshalb darf man keine Kriege führen, sondern man hatte den Eindruck, er war stolz auf seine Erfindung. Nein, die Geschichte wiederholt sich nicht, jedenfalls nicht als ein Ringelspiel. Die nächsten Nazis tragen vielleicht keine braunen Hemden, die nächsten Kriege werden vielleicht keine Schützengräben haben. Aber die Gefahren enden nie, so wie die Geschichte nicht endet. Und so wird es immer wieder nötig sein, Schlafende zu wecken.

zurück